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Resonanz als Lebenselixier und Katalysator

Resonanz ist eine Form der Beziehung, die über den bloßen Kontakt oder die Interaktion hinausgeht. Resonanz ist für mich die Erfahrung eines tiefen, wechselseitigen, lebendigen Austauschs zwischen dem einzelnen Menschen(wesen) und der Welt. In diesem Zustand fühlt sich der Mensch nicht nur „angestoßen“ oder „berührt“, sondern er erfährt eine aktive Verbindung mit der Welt, die ihn oder sie ausfüllt und verändert. Es geht also nicht nur darum, passiv zu reagieren, sondern auch darum, auf die Welt so zu reagieren, dass sie auch auf uns reagiert. Bin ich mit der Welt in Resonanz und die Welt mit mir, dann fühlen wir uns verbunden, es entsteht ein gemeinschaftlich gestalteter Resonanzraum. Es entstehen schöpferische, dialogisch-prozessuale Qualitäten und damit auch Spiegelungsnuancen, aber auch aufsteigende Energiefelder, die über das hinausführen, was die Dialogpartner schon sind. Es gestaltet sich ein Prozess in Gegenwärtigkeit. Prozesse führen in der Gegenwärtigkeit schon deshalb in die Zukunft, weil sie Zukunft gestalten.

Ich unterscheide zwischen Resonanz als Qualität einerseits und der traditionellen Vorstellung von einer rein instrumentellen (sachorientierten, funktionsgesteuerten) Beziehung zur Welt andererseits, die von Kontrolle und Beherrschung, aber auch von Nutzen und Zugewinn geprägt ist, die in Funktionsrollen oder Schubladen wahrgenommen wird und dementsprechend im eigenen oder fremd gesetzten Interesse eingesetzt wird.

In einer resonanten Beziehung zur Welt erleben wir eine Art von Echtheit und Authentizität, in der die Welt nicht nur als Objekt oder als Ressource erscheint, sondern als etwas, mit dem wir in einer wechselseitigen Wechselbeziehung stehen und das in der Gegenwärtigkeit der Begegnung etwas entzünden kann, was uns aus der Zukunft ruft, mit dem Auftrag, es in der Gegenwärtigkeit zu leben und zu gestalten. Dabei handelt es sich im Grunde um eine wahrnehmungssensible Aushandelspartnerschaft, die sich gegenseitig anstößt, verlangsamt, vertieft oder erweitert und dabei auch weiterentwickelt. Wer sich darauf versteht ist nach Hartmut Rosa resonanzsensibel.

Hartmut Rosa plädiert dafür, den Mechanismen der Beschleunigung, Rationalisierung und Konkurrenzorientierung entgegenzuwirken, um Resonanz wieder möglich zu machen. Dies geschieht durch bewusste Entschleunigung, sinnstiftende Tätigkeiten, Pflege sozialer Beziehungen, reflektiertes Arbeiten, Naturerfahrungen, wahrhaftiges begegnen in Zeitlosigkeit und politisches Engagement. Für Rosa ist es entscheidend, dass Menschen nicht nur versuchen, ihre Lebensqualität zu verbessern, sondern aktiv Resonanzräume zu schaffen – Räume, in denen echte, bedeutungsvolle Begegnungen mit der Welt möglich sind.

Prozesse entstehen aus ehrlichem Interesse am Anderen, an seinen Sichtweisen, an seinen Wesensarten, an seiner Art Welt zu denken und zu fühlen bei gleichzeitiger Klarheit über die eigene Haltung. Daraus entsteht nicht nur ein Miteinander, sondern auch die Gelegenheit, das eigene Selbstverständnis in neuem Licht zu sehen. Das genieße ich in jeder Begegnung, in jedem aufeinander Bezogen Sein, in jedem entstehenden Resonanzfeld mit einem Gegenüber. Mich fasziniert es, wenn Worte lebendig werden, ins fließen kommen, eigene Realitäten schaffen, gerade auch zwischen den Zeilen. In Beziehungen kommt es immer auch zu Fließprozessen zueinander hin, voneinander weg und auch in gemeinsame Bewegungen. Aus gemeinsam gestellten Aufgaben steigen Bilder und Ideen auf, daraus wiederum steigt manchmal etwas Größeres auf, das über die ursprüngliche Fragestellung des „Begegnung suchenden“ hinaus geht und nicht selten Blickwinkel und Perspektiven eröffnet, die weit über die kurzfristige Zukunft hinaus reichen, als vorweggegriffene Antworten, Innenschauen mit konzeptionierten Vorausgestaltcharakter. Es entsteht ein Raum lebendiger Kommunikation. Ein Ort an dem ich selbst und der Andere bewegt werden, von Worten, Energien, Klängen, Atmosphären, Schwingungen und Perspektiven, die nicht einfach so aus mir selbst kommen, sondern sich aus dem Begegnungsraum heraus eröffnen und ergeben. So bin ich in Beziehung mit mir, mit anderen und mit etwas, das über uns hinausreicht, nämlich mit Gott, als der Schöpferkraft, die in der Gegenwärtigkeit in Jetzt-Zeit Antworten gestaltet, die uns aus der Zukunft schon unsichtbar gerufen haben. Sterne leuchten auf und fühlen sich an, wie unschuldige, unverbrauchte, Hoffnung und Frieden bringende, Morgensterne. Ringen und Suchen gehören dazu, Loslassen, Boden frei geben und Urknall, Veränderung und Stille, Wort und Bewegt Sein, Raum und Energie, Schwingen und Klingen, freischwebende und doch zusammenführende Resonanzräume. Raum, Worte, Menschen, alles ist miteinander verwoben. Unterschiedliche Blicke eröffnen verschiedene Perspektiven aufs Leben. Woher kommst du? Wohin gehst du? Was trägt dich? Sieh hin. Hör zu. Was bleibt. Ein schwimmender und schwebender Boden erhebt sich aus der sich findenden Begegnung und eröffnet neue Räume, neue Gedanken, neue Fühlqualitäten, die gleichzeitig auf höherer Ebene Antworten beinhalten auf unsere Fragen und unsere angestauten Nöte. Es ist faszinierend zu entdecken, wie der individuelle Geist zur Energie und Kraft eines Kollektivs beiträgt und es über seine - bisher schon wahrgenommene, durchschrittene Realität hinaushebt. Jede/r Anwesende beeinflusst maßgeblich die atmosphärischen Bewegungen mit, die entstehen. Jede Begegnung ist eine Art Bühne, auf der Unbekanntes und noch Unerforschtes entsteht. In Momenten der Begegnung erfahren und entwickeln wir unsere Welterfahrung weiter und gestalten die Welt neu. Aus den gemeinsam erlebten und gestalteten Erfahrungsräumen entstehen Deutungsspielräume und damit deutungsoffene Prozesse. Die das „Noch-nichtErkannte“ ins Licht bringen. Das ist spannend, inspirierend und zellöffnend. In diesem Raum findet Heilung statt und nirgendwo sonst.

Hierbei lassen sich ganz unterschiedliche Dimensionen von Resonanz ergründen:

Resonanz in zwischenmenschlichen Beziehungen

Resonanz entsteht in Beziehungen, die von einer tiefen Verbindung zwischen den agierenden Menschen geprägt ist, die nicht nur auf oberflächliche Interaktionen reduziert ist. Eine solche Verbindung ist von Vertrauen, Empathie und authentischer Kommunikation gefärbt und gestaltet sich im besten Fall konsensual. Diese Form der Resonanz ist zentral für soziale Bindungen, Freundschaften und Partnerschaften. Sich wiederholende Resonanz mündet in das, was wir Bindung nennen.

Resonanz mit der Welt

Resonanz umfasst auch die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt, zu Dingen, zur Natur und zu der Gesellschaft als Ganzes. In diesem Zusammenhang betont Hartmut Rosa, dass wir als Individuen in der modernen Welt häufig von einer „resonanten Beziehung“ zur Umwelt abgeschnitten sind, was zu einem Gefühl der Entfremdung führen kann und damit auch zur Verantwortungslosigkeit gegenüber unserem Lebensgrund. Resonanz ist hier der Zustand, in dem wir uns aktiv und lebendig mit unserer Welt verbunden fühlen und deshalb auch mit ihr mitfühlen und sie mit all unserer Unzulänglichkeit, die wir mitbringen, doch auch berücksichtigen wollen.

Resonanz in der Arbeit und im Alltag

Es geht aber nicht nur um persönliche Beziehungen, sondern auch um das, was wir tun – um Arbeit und Kreativität. In der modernen Gesellschaft, die von Beschleunigung und Effizienz geprägt ist, sind viele Menschen in einem Zustand der Desensibilisierung oder der „Nicht-Resonanz“, was zu einem Gefühl der Leere oder Entfremdung führen kann. Resonanz dagegen ist der Zustand, in dem Menschen das Gefühl haben, dass ihre Arbeit und ihr Engagement wirklich etwas bewirken und in Verbindung mit einer größeren Bedeutung stehen. Außerdem ist der Zustand davon geprägt, sich selbstwirksam zu erleben und sich schöpferisch einbringen zu können, also gehört zu werden und mitgestalten zu können. Das wiederum ermöglicht sinnstiftende Identifikation.

Resonanz als ästhetische Erfahrung

Auch Kunst und ästhetische Erlebnisse können Resonanz hervorrufen, wenn sie uns nicht nur intellektuell ansprechen, sondern uns emotional und existenziell berühren. In der Kunst geht es nicht um einen bloßen Konsum von Inhalten, sondern um eine tiefere Erfahrung und das Gefühl, dass das Kunstwerk auf uns „antwortet“ und etwas in uns auslöst, ja im besten Sinne in uns vielleicht sogar etwas initiiert und uns verändert. In solchen gelingenden Resonanzmomenten fühlt sich unsere Seele berührt und öffnet sich für den Eindruck, um sich vielleicht sogar in das Kunstwerk hinein zu verschenken.

Resonanz und Entfremdung

In der modernen, technologisierten Welt, die von Geschwindigkeit, Effizienz und Kontrolle geprägt ist, haben viele Menschen das Gefühl, von der Welt entfremdet zu sein. Sie erleben die Welt nicht mehr als resonant, sondern als etwas, das sie beherrschen, manipulieren oder optimieren oder dem sie ungeachtet Ihrer EigenRhythmen oder Selbstgestaltungswünsche zuarbeiten müssen. Dies führt zu einer Krise der Resonanz, in der Menschen die Verbindung zur Welt verlieren und zunehmend ein Gefühl der Leere oder der Sinnlosigkeit erfahren. In vielen modernen Gesellschaften erleben Menschen ihre Arbeit als entleert, als nicht mehr resonant, weil sie sich häufig als bloße Zahnräder in einem riesigen Maschinenrad sehen und keinen direkten Bezug zu den Auswirkungen ihrer Arbeit auf das Leben anderer Menschen haben. Es fehlt die Sinnstiftung und oftmals auch der schöpferische Spielraum. Auch die Überflutung mit Informationen und der ständige Druck zur Beschleunigung tragen dazu bei, dass wir das Gefühl verlieren, in Resonanz mit der Welt zu sein. Resonanz könnte also auch als Gegenentwurf zur Beschleunigung gesehen werden. Die moderne Gesellschaft gerät durch den ständigen Drang nach schnellerer Effizienz und Produktivität immer mehr aus dem Gleichgewicht. Die Folge ist, dass Menschen das Gefühl haben, immer weniger Kontrolle über ihr Leben zu haben und weniger Raum für tiefere Erfahrungen der Resonanz zu finden. Resonanz stellt für mich die zentrale Antwort auf diese Beschleunigung dar. Es geht dabei um eine Verlangsamung, ein Innehalten und eine bewusste Entscheidung, mit der Welt und den Menschen auf eine tiefere, mehr empathische und bedeutungsvollere Weise zu interagieren, miteinander „in Schwingung“ zu geraten. „Wir sind Energie“. Wenn Energie mit der Welt resoniert, klingen die verschiedenen Wirklichkeiten miteinander und im Klingen bringen sie sich gegenseitig ins Schwingen. Wer miteinander schwingt, fühlt sich verbunden, empfindet sich sogar als „Eins“. Das Konzept der Resonanz ist letztendlich eine Antwort auf die Entfremdung und die Krise der modernen Welt, die durch die Beschleunigung von Zeit, Kommunikation und sozialen Prozessen geprägt ist. Resonanz beschreibt eine tiefere, wechselseitige Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Welt, in der nicht nur der Mensch die Welt prägt, sondern die Welt auch den Menschen prägt. Diese Resonanz ist ein zentrales Element für das Gefühl von Bedeutung, Selbstwert, Verbundenheit und Lebensqualität. In einer Welt, die zunehmend von Entfremdung und Geschwindigkeit geprägt ist, bietet Resonanz eine Möglichkeit, wieder in einen lebendigen, aktiven Austausch mit der Welt zu treten und sich als Teil der Welt wahrzunehmen. Die Welt geht uns dann wieder etwas an, sie berührt uns, sie bewegt uns und sie erregt uns und wir umgekehrt die Welt. Wir nehmen uns also gegenseitig wahr, wir spüren uns, zwischen uns entsteht Energie, Beziehung, Bewegung miteinander oder gegeneinander, wir stoßen uns an und wir tarieren uns aus. Wir lernen wieder berührbar zu werden und zu spüren wie es uns geht. Wir gehen uns wieder etwas an und wir sind verantwortlich füreinander. Wir erleben uns im sinnlichresonierenden Sinne als Teil der Welt.

Resonanz in der Psychologie

Das Konzept der Resonanz in der Psychologie und Philosophie ist besonders interessant, weil es weit über das rein Physikalische hinausgeht und tief in das menschliche Erleben und die Kommunikation eindringt. Resonanz beschreibt hier eine Art von „emotionaler oder intellektueller Harmonie“, bei der etwas mit uns in Einklang tritt, sodass wir darauf reagieren, als ob es eine tiefere Bedeutung oder Wahrheit enthält.

In der Psychologie wird Resonanz oft verwendet, um die emotionale Reaktion auf bestimmte Ereignisse, Erlebnisse oder zwischenmenschliche Begegnungen zu beschreiben. Wenn etwas mit uns „resoniert“, bedeutet das, dass es in uns etwas anstößt, das tief verwurzelt ist – sei es ein bestimmtes Gefühl, eine Erinnerung oder ein unbewusstes Bedürfnis. Es gibt verschiedene Dimensionen, in denen Resonanz eine Rolle spielt. Resonanz kann sich bis zur Initialzündung, die Welt neu zu betrachten, eine neue Perspektive plötzlich als Wirklichkeit zu erleben oder sich aus einem Raum der bisher fremd bzw. unbeschrieben war, auf neue Weise handelnd zu erleben, ausweiten.

1. Resonanz in zwischenmenschlichen Beziehungen

Ein wichtiger Aspekt der Resonanz in der Psychologie ist, wie wir auf andere Menschen reagieren. Bestimmte Verhaltensweisen, Worte oder Gesten können bei uns starke emotionale Reaktionen hervorrufen, weil sie mit unseren eigenen Erfahrungen oder Gefühlen übereinstimmen. In der Psychotherapie, insbesondere in der Bindungstheorie, wird Resonanz oft als ein Schlüsselmechanismus verstanden, durch den sich Menschen miteinander verbinden. Wenn jemand in einer Beziehung auf eine Weise reagiert, die uns „anspricht“, kann das eine tiefe emotionale Reaktion hervorrufen, die zu einem Gefühl der Nähe, des Verständnisses oder der Heilung führt. Aber auch erfahrene Dissonanz kann verbinden. Resonanz ermöglicht fühlbar, dass wir uns nicht alleingelassen fühlen, sondern mitfühlende Zeugenschaft erfahren, manchmal in Begebenheiten die einmal sehr belastend waren und ungesehen blieben.

2. Selbstresonanz und die Bedeutung von Werten

Resonanz kann auch ein Zeichen dafür sein, dass etwas mit den eigenen inneren Werten oder der persönlichen Identität im Einklang steht. Etwas, das mit den eigenen Überzeugungen oder Wünschen übereinstimmt, „resoniert“ mit dem Selbst. Dies ist oft der Fall, wenn Menschen sich in bestimmten sozialen oder kulturellen Kontexten zugehörig fühlen oder wenn sie auf eine Idee oder Philosophie stoßen, die ein Gefühl der Authentizität oder der inneren Kohärenz erzeugt. Dahinter stehen oft Haltungen oder Sichtweisen auf bestimmte menschliche Themen und Prozesse.

3. Resonanz in der Verarbeitung von Traumata

In der Traumabewältigung oder in der Psychotherapie allgemein kann Resonanz auch ein wichtiger Mechanismus sein. Es kann Momente geben, in denen Menschen auf Geschichten oder Erfahrungen anderer so stark reagieren, dass sie ihre eigenen traumatischen Erlebnisse wiedererkennen oder verarbeiten. Diese Resonanz auf die Erfahrungen anderer kann ein Katalysator für Heilung sein, weil sie das Gefühl gibt, nicht allein zu sein und dass andere ähnliche Schmerzen erlebt und möglicherweise sogar bestanden haben. So erfahren als Supervisor eines Kriseninterventionsteams, in dem viele der Ehrenamtlichen selbst schwere traumatische Hintergründe hatten. Auch in therapeutischen Gruppen trifft man genau auf dieses beschriebenen Phänomen.

Resonanz in der Philosophie

In der Philosophie hat Resonanz eine eher metaphorische Bedeutung, die oft mit Echtheit, Bedeutung und Erkenntnis verbunden ist. Der Begriff wird verwendet, um die Idee zu beschreiben, dass eine philosophische Wahrheit oder Idee nicht nur verstanden, sondern auch tief empfunden oder erfahren werden muss. Resonanz in der Philosophie kann somit als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass eine Idee oder eine Wahrheit mit dem inneren Verständnis des Menschen im Einklang steht.

1. Resonanz als Grundprinzip der Erkenntnis

In der Philosophie, insbesondere im Existentialismus und in der Phänomenologie, kann Resonanz als ein Weg verstanden werden, wie Menschen eine tiefere Verbindung zur Welt und zu sich selbst erfahren. Ein Beispiel ist die Philosophie von Martin Heidegger, der das Konzept des „In-der-Welt-Seins“ betont. Für ihn ist die Resonanz zwischen einem Menschen und seiner Welt ein entscheidender Aspekt des Lebens – nicht nur im intellektuellen, sondern auch im existenziellen Sinn. Resonanz beschreibt hier das Erleben der Welt, das als tief miteinander verknüpft und nicht nur als abstrahierte, objektive Realität erfahren wird.

2. Resonanz als Verbindung von Individuen und der Welt

Der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer hat den Begriff der Resonanz in seiner Hermeneutik verwendet, um zu erklären, wie Dialog und Kommunikation als Prozess des gegenseitigen Verstehens funktionieren. Resonanz ist für Gadamer ein zentrales Element in der „Verstehensbewegung“, die nicht nur durch Worte, sondern auch durch eine tiefere empathische Verbindung zwischen den Gesprächspartnern entsteht. Ein Dialog kann nur dann erfolgreich sein, wenn er mit einer Resonanz im Inneren der Gesprächspartner verbunden ist, wenn beide ihre „inneren Stimmen“ wirklich hören und aufeinander eingehen.

3. Resonanz in der Ästhetik

In der Ästhetik der Philosophie, insbesondere bei Denkern wie Theodor W. Adorno und Martha Nussbaum zum Beispiel, wird Resonanz oft verwendet, um zu beschreiben, wie Kunst und Schönheit in uns eine starke emotionale oder intellektuelle Reaktion hervorrufen. Eine Kunstform, die „resoniert“, geht über das bloße Verstehen oder Betrachten hinaus – sie spricht uns auf einer tieferen Ebene an, aktiviert emotionale oder kognitive Prozesse, die uns dazu bringen, uns selbst und die Welt um uns herum anders zu verstehen.

4. Resonanz und ethische Verantwortung

In der Ethik kann Resonanz auch eine Rolle spielen, indem sie das Verständnis von Verantwortung und zwischenmenschlichem Mitgefühl vertieft. Eine ethische Handlung kann als resonant beschrieben werden, wenn sie aus einem tiefen Verständnis der Verbindung zwischen dem Handelnden und dem anderen Menschen hervorgeht. Resonanz hier ist der Moment, in dem wir uns mit dem Leid eines anderen identifizieren und daher Verantwortung übernehmen, weil wir die gemeinsame Menschlichkeit spüren.

Resonanz in der Psychologie und Philosophie verweist auf ein tiefes, oft unbewusstes Erleben von Kohärenz und Verbindung – sei es mit anderen Menschen, mit eigenen Werten oder mit größeren, universellen Wahrheiten. Sie ist nicht nur eine intellektuelle Reaktion, sondern ein ganzheitliches, räumliches Erleben, das uns hilft, uns selbst und die Welt um uns herum in ihrer Tiefe zu verstehen und zu erfahren und somit auch als gleichwürdig zu empfinden. Sie spielt eine zentrale Rolle in zwischenmenschlichen Beziehungen, der Bewältigung von Traumata, der Kunst und der Philosophie – und ist eine Quelle der Verbindung, die sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene Bedeutung hat.

Die Menschheit wird von der Zukunft her in eine neu zu gestaltende Gegenwärtigkeit gerufen, anstelle von Welterweiterung im Sinne von mehr, reicher, weiter besser, geht es darum, Resonanzfähigkeit zu entwickeln. Jede/r nimmt jede/n wahr und berücksichtigt ihn/sie in seinem Handeln, in seinem Denken, die Welt natürlich miteingeschlossen. Denn Welterweiterung als solche ist nicht unbedingt ein Weg zu mehr Lebensqualität oder zu einem tieferen, erfüllten Dasein. Wir sollten die Orientierung an Wachstum und Quantität viel mehr in Frage stellen und unsere Resonanzfähigkeit und die Qualität unserer Beziehungen zur Welt und zu anderen Menschen viel mehr in den Vordergrund stellen, anstatt immer nur nach mehr zu streben. Wer ein Augenmerk auf die Qualität der Beziehungen richtet, nimmt auch die Auswirkungen war, die von bestimmten (Nicht-) Beziehungsqualitäten ausgehen. Mit der wiedererwachten Resonanz spüren wir auch wieder die Wirkungen und Auswirkungen.

In seiner Kritik an der modernen Gesellschaft, die durch eine Beschleunigung der Zeit und eine Kultur des unaufhörlichen Wachstums geprägt ist, stellt Hartmut Rosa den grundlegenden Unterschied zwischen „Welterweiterung“ im klassischen Sinne (mehr Konsum, mehr Mobilität, mehr Reichtum, mehr Fortschritt) und der Idee einer Resonanzfähigkeit, „die jede Zelle zum Lächeln bringt“ heraus. Er sieht die stetige Erweiterung der Welt im Sinne von mehr Dingen, mehr Wissen oder mehr Aktivitäten als eine illusorische Lösung, die nicht zu tieferer Erfüllung führt. In meiner Arbeit benutze ich oft das Bild, von Zellkindern, die in uns wohnen und die sich je nachdem, welche Haltung wir zu ihnen einnehmen, ob wir fürsorglich sind, abweisend, fordernd, eher lächeln, tanzen oder traurig sind und schmollen.

1. Beschleunigung und Entfremdung

Rosa argumentiert, dass die ständige Erweiterung der Welt und die damit verbundene Beschleunigung eine Entfremdung von der Welt und von uns selbst zur Folge haben. Der Fokus auf immer mehr – sei es in Bezug auf Konsum, Arbeit oder Wissen – führt dazu, dass wir uns zunehmend von der qualitativen Dimension des Lebens entfernen und tatsächlich glauben, dass es nützt uns, wenn wir die Welt quantitativ messen. Die Welt wird zunehmend als etwas zu beherrschendes, zu optimierendes Objekt wahrgenommen, und wir verlieren die Fähigkeit, auf tiefere, resonante Weise mit ihr in Kontakt zu treten.

Die Idee von mehr und besser ist in diesem Kontext eine Art „Flucht nach vorne“, die letztlich keine wahre Verbindung zur Welt schafft, sondern nur eine ständige Ablenkung von den wirklich tiefgehenden und bedeutungsvollen Erfahrungen bewirkt. Sie verhindert auch, wahrzunehmen, was ist und darauf adäquat zu reagieren. Diese Idee macht uns kopflos, ohne inneren Stand von dem aus wir bewerten und entrückt uns der Wahrnehmung natürlicher, fragiler Zusammenhänge.

2. Resonanzfähigkeit als Gegenpol

Statt nach „mehr“ zu streben, schlägt Rosa vor, unsere Resonanzfähigkeit zu entwickeln und zu fördern. Resonanz bedeutet, dass wir uns auf eine tiefere, authentische Weise mit der Welt verbinden, dass wir nicht nur mit Dingen umgehen oder sie verändern, sondern auch von ihnen verändert werden. Resonanz ist also ein Prozess der gegenseitigen Beeinflussung und des Austauschs zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, der nicht auf Wachstum, Vermehrung oder Expansion abzielt, sondern auf ein echtes, lebendiges Erleben und Verstehen. Dazu gehört auch nachklingen lassen, selbst resonierend reifen lassen - geduldig abwartend, bis potentielle Handlungsgestalten oder zukunftsfähige Antworten aus dem eigenen Bewusstseinsraum aufscheinen. Resonanz schafft auch Bewusstsein und Erkennen, dass Nicht-Resonanz uns auch zum Täter werden lassen kann. Wer nichts fühlt und nichts spürt, kann ja auch in seinem Handeln nichts mitberücksichtigen oder vorausschauend einbeziehen.

Das bedeutet, dass wir lernen müssen, die Welt zu erleben und zu verstehen, nicht in einer Weise, die uns immer weitertreibt und überfordert, sondern indem wir uns mit ihr harmonisch und achtsam, auf gegenseitige Achtung und Ausgleich bedacht, verbinden. Resonanz hat hier nichts mit der schieren Menge an Erfahrungen oder „Erweiterungen“ zu tun, sondern mit der Qualität der Beziehungen, die wir zur Welt und zu anderen Menschen aufbauen. Statt immer neue Bereiche der Welt zu erschließen, geht es darum, mehr Tiefe, mehr Aufmerksamkeit und mehr Resonanzfähigkeit in das, was wir bereits haben, zu investieren.

Resonanz als „Antwort“ der Welt

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Resonanz nicht nur von uns ausgeht, sondern auch die Welt aktiv auf uns reagiert. Resonanz ist also eine wechselseitige Beziehung, bei der die Welt uns als lebendig und bedeutungsvoll erscheint. Es geht nicht um eine rein egozentrische Welterweiterung, sondern um das Erleben einer aktiven, wechselseitigen Wechselbeziehung mit der Welt. Die Welt antwortet auf unsere Handlungen und Gedanken und gibt uns auf diese Weise Antworten und Rückmeldungen, die unser Leben bereichern und verändern können. Sie reagiert auf uns und auf das, was wir bewegen.

In dieser Perspektive ist das Streben nach mehr und weiter nicht das Ziel, sondern das Verlangen nach einer tieferen, ehrlicheren Resonanz mit dem, was bereits existiert. Das bedeutet, dass wir in der heutigen Welt, die von einer Kultur des Wachstums und der Expansion geprägt ist, unsere Haltung und Perspektive verändern müssen. Statt nach mehr zu streben, sollten wir uns fragen: „Wie können wir die vorhandenen Verbindungen zu uns und der Welt vertiefen und die verschiedenen Bewegungen des „anderen“ mit einbeziehen und berücksichtigen Lernen, um sie im besten Sinne stärken?“ „Wie können wir entstehenden Ungleichgewichten ausgleichend entgegenwirken?“

Resonanz in der Praxis bedeutet Verlangsamung und Achtsamkeit

In der Praxis schlägt Rosa vor, dass wir unsere Aufmerksamkeit nicht mehr nur auf das quantitative Wachstum richten, sondern auf das Erleben von Resonanz in unserem Leben. Das bedeutet, dass wir Verlangsamung üben, achtsam sind und uns bewusst auf die Dinge einlassen, die uns wirklich berühren und mit denen wir uns tief verbunden fühlen. Die Resonanzfähigkeit ist ein aktiver Prozess, der Raum für intensivere und tiefere Erfahrungen schafft, statt in einer Welt zu leben, die uns mit ständiger Geschwindigkeit und Ablenkung überfordert und ganz nebenbei durch unsere Nicht-Wahrnehmung und Nicht-Beachtung zugrunde geht.

Sofern Sie, lieber Leser, liebe Leserin, Resonanz mit diesen Gedanken, Gefühls- und Denkarchitekturen verspüren, haben Sie ja vielleicht auch erkannt, dass Psychotherapie eine Möglichkeit sein kann, für sich einen Lernraum zu schaffen, um wieder resonanzsensibler zu werden. Das wiederum führt zu mehr Nachhaltigkeit und Resilienz im Umgang mit uns selbst, aber auch im Hinblick auf unseren Lebensgrund, die Erde.

30. April 2025 / Joachim Armbrust


Psychotherapie und Achtsamkeit

Beim Ringen um Veränderung stehen wir oft an dem Punkt, dass wir das Problem mit dem Verstand durchaus gut erkennen, aber die Lösungsversuche funktionieren nicht. An dieser Stelle hilft uns innere Achtsamkeit, eine Form der Aufmerksamkeit, die sich in den meditativen Disziplinen schon seit Jahrtausenden bewährt hat.

Die langsame Schulung der inneren Achtsamkeit baut eine immer stabiler werdende Bewusstseinsposition auf, die uns mehr und mehr erlaubt, die Bestandteile und die Gestaltung des inneren Erlebens zu erforschen.

Zunächst bekommen wir ein besseres Gespür und Gefühl für die Fragen unseres Lebens, und schließlich können wir zu den Grundlagen unserer Selbstorganisation Zugang finden, dem „roten Faden“, der sich oft wie in einem Webmuster durch viele Bereiche unseres Lebens zieht. Die nicht-bewussten automatischen Steuerungsfaktoren werden allmählich ins Bewusstsein gehoben und durch eine immer umfassender werdenden „Selbstführung“ organisiert. Letztlich führt der Weg der Achtsamkeit zu den Kräften der Selbstheilung und der inneren Weisheit.

Wahrnehmen, fühlen, denken, handeln
Im Zentrum von Bewegung, Sozialerfahrung, Körpererfahrung, Gefühlen, Sprache bzw. Sprechen und Kognition steht die Wahrnehmung. Alles ist nichts ohne Wahrnehmung und Achtsamkeit. Unsere Wahrnehmung ist es, die uns hilft, Schöpfer unserer Gedanken zu sein und damit Schöpfer unseres künftigen Seins.

Achtsamkeit, wache Aufmerksamkeit, annehmen, was ist, wahrnehmen, was ist, Konzentration, wertfreie Wahrnehmungsschulung, nachspüren, zulassen, be-greifen, die Wirklichkeit anerkennen, auf die Wahrheit hören, in die Stille lauschen, das Unhörbare hören, das kaum Vernehmbare erkennen, verstehen, einwilligen, zustimmen, ja sagen zur eigenen Existenz.

Wirklichkeit, ist das, was wirkt. Das Eigentliche sichtbar machen, zum Ursprung hinfinden, sich im eigenen Wesen erkennen, sich dem eigenen Wesenskern annähern, den Keim hegen und pflegen, aus der Quelle schöpfen, innere Kräfte wecken, sich der eigenen Person annehmen und sie zum Klingen/Tönen bringen, Durchdringung des Seinszustandes.

In dem Maße, wie wir die Verbindung zu unserem Wesensgrund und der Lebenskraft verlieren, fühlen wir eine Leere in uns, eine Einsamkeit, einen Mangel. Wenn es uns gelingt, uns diesen Gefühlen zu stellen, geschieht dadurch paradoxer Weise eine Öffnung.

Es ist nicht leicht in Zeiten innerer Verwirrung die widerstrebenden Gefühle festzuhalten und anzunehmen und darauf zu vertrauen, dass die innere Wahrheit uns führt und uns von der noch nicht gelebten Zukunft her wieder ein Fenster in der Gegenwärtigkeit öffnet.
Aber genau diese innere Wahrheit führt uns, wenn wir nicht versuchen unseren Prozess abzukürzen oder zu umgehen, dann meldet sich eine Gewissheit tief aus unserem Inneren.
Zur Findung von Gewissheit brauchen wir aber auch die Unterstützung und Spiegelung durch andere Menschen auf unserer Reise zur Heilung und Bewusstwerdung.

Jede/r von uns trägt eine Art Lebensweisheit in sich, es liegt an uns, uns mit ihr zu verbinden. Wenn wir auf unsere Intuition hören und ihr vertrauen, wird sie uns leiten. Nur durch innere Wandlung wandelt sich das Außen, auch wenn es noch so langsam nachfolgt. Ist die innere Mitte stark und geordnet, so bleibt es nicht aus, dass das Wirrsal der Peripherie sich allmählich klärt und sich wie von selbst ordnet um die Klarheit der inneren Mitte. Achtsamkeit ist der Schlüssel, der das noch Verborgene öffnet.

Aus meiner Sicht wird die Qualität der Selbstorganisation eines Menschen durch den Fluss von Informationen bestimmt. Wie verschiedene Anteile einer Person zusammenarbeiten, hängt davon ab, was sie voneinander und über die Außenwelt wissen. Interne Modelle der Wirklichkeit eröffnen und begrenzen die Verhaltens- und Erlebnismöglichkeiten. Worte kennzeichnen und bewegen dabei die symbolischen Ebenen, auf denen diese Art von Informationen gespeichert und verändert werden kann. Worte sind auch eine wichtige Art, wie Eltern mit dem inneren Erleben ihrer Kinder in Verbindung bleiben können und so Sorge tragen, dass sich Begleiter und Begleiteter nicht in verschiedenen Welten befinden, sondern wirklich sich zusammen bewegen.

"Die Möglichkeitsgrenzen des Dialogischen sind die des Innewerdens."
Es verlangt Mut, weil wir für alles offenbleiben müssen, was sich in der Begegnung entwickelt. Das ist Gehen auf einem "schmalen Grat". Möglichkeiten durch bereits vorab festgelegte Kategorien auszuschließen, heißt einen bedeutungsvollen Dialog abzuwürgen. Es verlangt Mut, unzählige Spannungen in enger und fruchtbarer Beziehung zueinander zu halten, ohne ihren vollen Entwicklungsprozess abzubrechen und ohne ihn voraus zu wissen…

Offen bleiben für die Entfaltung dessen, was ist oder was werden will. Dem Sein zu vertrauen, dem unbekannten ins Gesicht schauen. Gleichzeitige Verbundenheit und Getrenntheit, verharren indem was war und gleichzeitig gerufen werden in das, was noch nicht ist. Im Spannungsfeld dieser Kräfte mitfühlend und vertrauensvoll Raum halten lernen, für das was werden will.

14. April 2025 / Joachim Armbrust


Rivalitäten - Wie du mit Eifersucht zwischen Geschwistern umgehen solltest | BUNTE.de

Artikel in BUNTE.de - Rivalitäten - Wie du mit Eifersucht zwischen Geschwistern umgehen solltest

6. November 2024 / Joachim Armbrust


"Eine Frage des Vertrauens" in klein & groß 10/2024

Artikel "Eine Frage des Vertrauens", in klein & groß, 10/2024, Autor: Joachim Armbrust

28. Oktober 2024 / Joachim Armbrust


IKIGAI – was das Leben lebenswert macht

Japanische Philosophie als psychotherapeutische Begleithilfe für Menschen, die auf Ihrem Selbstfindungsweg Begleitung und Unterstützung suchen.

Autor: Joachim Armbrust

Artikel bei raum & zeit

Es geht beim japanischen IKIGAI um nicht weniger, als den Sinn des Lebens – und da gibt es viel zuentdecken. Die Suche ist eine Reise zu dir selbst, auf der du viel Neues über das Leben, - über dein Leben -, lernen kannst. IKIGAI ist ein Weg, der darauf abzielt, das persönliche Glück und die innere Zufriedenheit, sowie die unterstützende Resonanzfähigkeit mit sich selbst, durch die Identifikation mit dem eigenen Tun, - das sich aus den angelegten, persönlichen Schätzen ergibt, - und dem Verfolgen von Leidenschaften und Zielen, zu fördern. Dabeistehen nicht die Ergebnisorientierung, der eigene Anspruch an sich selbst oder der Vergleich mitanderen im Vordergrund, sondern die schöpferisch gestaltete Gegenwärtigkeit und das damit verbundene erfahrbare Tun.
„Finde dein persönliches IKIGAI, deinen inneren Leitfaden, der dich führt und an dem du deine Erlebnisse im Alltag messen und zur ordnenden und befriedenden Erfahrung machen kannst. “IKIGAI erzeugt das Gefühl, dass wir uns in der Zukunft bewegen, dass wir dort schon sind, was wir in der Gegenwärtigkeit werden wollen und von der Zukunft her zur Verwirklichung des noch Ungelebten gerufen werden. Das kann sich sehr sinnstiftend und herzöffnend auf uns auswirken und dazubeitragen, dass wir uns auf jeden gelebten Moment freuen, weil er etwas noch Ungelebtes Gestaltgewinnen lässt. Mit der gelebten Erfüllung einer erst nur vorausgedachten Gestalt fließt uns aus der Zukunft das Gefühl von schöpferischer Wirksamkeit, von Glück und Freude in der Gegenwärtigkeit zu. Was können wir uns über die japanischen Wortstämme des Wortes an dazu verwandter Bedeutungableiten?
„Iki“ steht für Leben, Geburt, Alltag
„Kai“ steht für Wert, wertvoll
Ikigai nutzen Japaner/innen, wenn sie zum Ausdruck bringen wollen, dass etwas „lebenswert“ ist oder etwas das Leben „wertvoll“ macht. Dies kann viel mehr als unser Berufsleben sein. Es kann etwas ganz Persönliches sein. Es kann all das sein, was du für wertvoll hältst. Ikigai wird lebendig, wenn wir es in seiner Offenheit und in seiner Weite begreifen. IKIGAI beinhaltet das ganze Spektrum. Die Komplexität von IKIGAI spiegelt die gesamte Komplexität des Lebens selbst wider. Das gilt auch für unseren je eigenen Lebenssinn, den wir uns kreieren. Ikigai ist individuell, es drückt sich darin nichts feststehendes, sondern ein Tätigsein aus. IKIGAI können wir in allen Lebensmomenten erfahren, bei einem Sonnenaufgang, bei einer freundlichen Begegnung, wenn wir uns durch einen anderen Menschen in einem ureigenen Wesenszug erkannt fühlen oder auch, wenn uns etwas plötzlich glückt, an dem wir lange gefeilt hatten. IKIGAI kann uns im Alltag begleiten als eine kontinuierlich immer wieder neu erlebte Qualität, wenn wir es schon länger einladen oder es kann uns überraschen, wenn wir am wenigsten damit rechnen. Der Qualität von IKIGAI können wir also in Großen wie in kleinen Dingen des Lebens begegnen. Das macht IKIGAI so vielfältig wie das Leben selbst.
Die japanische IKIGAI-Philosophie lädt uns ein, in unserem Alltag Bewusstsein für unsere Werte und unseren persönlichen Lebenssinn zu entdecken und zu entwickeln. Es ist etwas sehr Persönliches. Wenn wir es auf unserer Lebensreise entdecken und entwickeln, entsteht so eine Art innerer Kompass, der uns Orientierung, Halt, Sicherheit, aber auch ein Ermahnen, Aufmerksam-machen und Geführt-werden mit auf den Weg gibt. IKIGAI führt uns fernab von Schablonen und vorgefertigten Handlungshülsen, die standardisiert und gängig sind. IKIGAI ist eine vorausgeworfene Verheißung, die besagt, dass da draußen in der Gegenwärtigkeit etwas auf uns wartet, das uns glücklich macht. Neben einer Bereitschaft zur Offenheit und Gelassenheit, braucht es vor allen Dingen Intuition, die sich mit wachsender Erfahrung immer mehr ausbildet und ausdifferenziert. Wenn wir uns für IKIGAI öffnen und wach dafür sind, dann dürfen wir einfach im wachen, aufmerksamen Tätigsein abwarten, denn dann begegnen wir unserem IKIGAI wie von selbst und unser IKIGAI findet uns.
IKIGAI lebt vom Respekt und der Achtung gegenüber den vielfältigen, lebendigen Daseinsformen unseres Lebens, aber auch materielle Wirklichkeiten, wie zum Beispiel Gegenstände, sind eingeschlossen. Für IKIGAI dürfen wir die getaktete, ergebnisorientierte Zeit verlassen und uns in eine Raumqualität von Zeitlosigkeit, Stille und Hellhörigkeit begeben. Unser werdendes IKIGAI lebt von unserer Offenheit und unserer wachen, sensiblen Aufmerksamkeit für die scheinbar kleinen Dinge im Leben. Wir werden nach und nach spürbar erfahren, dass es genau diese kleinen Dinge sind, die unserem Leben fast sinnlich-erfahrbar Erfüllung schenken. Unser IKIGAI lebt von unserer Wahrnehmungsbereitschaft dafür, dass jeder Moment kostbar und vergänglich ist. Wir können ihn nutzen oder vorüberziehen lassen. Er wird sich so jedenfalls nicht wieder wiederholen. IKIGAI hat auch etwas mit Vertrauen ins Leben zu tun. Darauf vertrauen, dass das Leben, das uns sogemeint hat, wie wir sind, uns spüren lässt, dass Wege beim intuitiven Gehen entstehen. IKIGAI wäre unvollständig ohne die Berücksichtigung unserer Wurzeln. Wurzeln erinnern uns an unsere Werte; vertraute und eingeübte, bewusste Gewohnheiten geben uns Stabilität und erinnern uns, was über die Ahnenreihen hinweg an Tragfähigem entstanden ist und uns immer noch trägt. Ein lebendiges und tragendes IKIGAI gestaltet immer wieder neu die Erfahrung von Harmonie und persönlichem Frieden, bis dahin, dass diese Qualitäten uns in Kontinuität begleiten. Oft stolpern Menschen in die Erfahrung von IKIGAI mehr hinein, als dass sie es zielgerichtet gesucht hätten. Es ist vielmehr die bewusste oder unbewusste Beschäftigung mit Themen, die unsere Wahrnehmungsbereitschaft in eine bestimmte Richtung erhöht und sensibilisiert und uns dadurch Türen der Erfahrung öffnet.
Mieko Kamiya formulierte sieben Dimensionen, die unser IKIGAI fördern: Lebenszufriedenheit, Wachstum und Veränderung, die Vorstellung einer hinreichend guten Zukunft, sowie Resonanz, im Sinne von, mit jemandem in Einklang sein, mit jemandem auf einer Welle schwingen, des weiteren Freiheit, Selbstverwirklichung, Bedeutung und Wert. Eine ganz wichtige Qualität bei der Verfolgungdieser Dimensionen ist dabei Gelassenheit. Es geht nicht um Perfekt sein oder um Konkurrenz, sondern es geht um kleine Schritte der erfüllenden Annäherung an etwas. Aus einem Objekt ein Subjekt machen, einen Draht herstellen, der resoniert.
Für viele Menschen ist das kreative Schaffen die Quelle ihres IKIGAs. Wieder andere Menschenfinden ihr IKIGAI in der Bewegung, durch die Wirkung, die diese Bewegung auf ihren Geist und ihrseelisches Befinden hat. Andere beim Laufen, weil sie es lieben, in einen meditativen Zustand zufallen, in dem sich eins mit der Natur, mit sich als Läufer und mit dem laufen selbst fühlen. Das entspannt sie und lässt sie ihren Alltag vergessen.

Helfen

Ich selbst habe vor einigen Jahren einen Verein mitgegründet: „Helfen hilft“. Die Idee dahinter war, dass wenn Menschen anderen Menschen dabei helfen, zu leben, dass sie das dann selbst stabilisiert, weil sie dadurch wissen, warum sie morgens aufstehen. Sie werden gebraucht. Dass wir uns selbstbesser fühlen, wenn wir anderen helfen, ist mittlerweile sogar wissenschaftlich bewiesen.

Das Leben annehmen, wie es ist

Das japanische Wort „Arugamama“ steht für: „dass die Dinge so sind, wie sie sind“. Es ist ein philosophisches Prinzip, nicht gegen die Umstände anzukämpfen, sondern sie zu akzeptieren. Ich konzentriere mich ganz auf die eine Sache, auf den einzigartigen Moment- und akzeptiere, die Dinge, so wie sie sind.

Malen

Ich selbst habe viele Jahre gemalt. Vor Beginn des Malens hatte ich in der Regel eine Idee davon, was ich malen will. Meistens machte mir irgendein spontaner Strich oder eine Farbe im wahrsten Sinne des Wortes einen Strich durch die Rechnung. Die ins Bild hinein gewordene Gestalt konnte nicht zurückgenommen werden, sie schuf eine neue Wirklichkeit, sie musste und wollte integriert werden. Meistens kam am Ende des gemalten Bildes etwas ins Bild hinein, was es erst ermöglichte, mit ihm ganz erfüllt und eins zu werden und den Ausdruck des Bildes als Selbstausdruck voll zu bejahen.

Natur – ebenfalls ein Weg mit seinem IKIGAI in Kontakt zu kommen

Ich lebe in einem alten Schulhaus am Rande des Dorfes und stehe im Grunde schon beim Verlassendes Hauses unmittelbar in der Natur. Tägliche Spaziergänge, mit oder ohne Hund, abendliches Gassi mit dem Hund gehören in meinen Tagesrhythmus. Ich vergesse dabei die Zeit, lasse meinen Gedanken und Gefühlen Raum und ich komme in eine Qualität von Resonanzfähigkeit und Hellhörigkeit, auch für das, was außerhalb von mir, also in der Natur ist. Ich höre den Eisvogel singen, den Hirsch bellen, ich sehe eine Blindschleiche sich schlängeln, ich höre die Blätter im Wind rascheln oder ein Waldrauschen. Diese feinen Wahrnehmungen helfen mir in einen Raum von wacher, aufmerksamer Zeitlosigkeit zu fallen. Diese entschleunigte Zeit, erhöht meine Wahrnehmungsfähigkeit, mein Spürbewusstsein und ich fühle mich intensiv und lebendig.

Respekt

Die feinstofflichere Art wahrzunehmen, überträgt sich natürlich auch auf Beziehungen. Je mehr wir uns auf unsere Mitmenschen einlassen, desto mehr und tiefer nehmen wir sie wahr und es entsteht eine neue, miteinander schwingende Art des in-Verbindung-tretens. Diese neue Art des respektvollen und hellhörigen Miteinanders schafft Verbundenheit und damit Verantwortung und Fürsorge füreinander. Wir laden uns gegenseitig ein zu leuchten, uns ins Licht zuholen; unseren Schatten, die uns bremsen, die Energie zu entziehen, ohne Anstrengung und Kampf. All das entsteht aus dem mitfühlenden, spürenden, respektvollen Miteinander sein.

Werte

Wenn sich unsere inneren Werte in unseren Handlungen und Entscheidungen im außen sichtbarmachen, sind wir glücklich und voller Bejahung für uns, wir erleben das Leben als lebenswert. Niemand kann uns diese Werte nehmen. Selbst in größter äußerer und innerer Not verbleibt uns dieFreiheit, wie wir uns in Lebensumständen verhalten wollen. Werte entstehen im gelebten Leben, durch die gemeinschaftliche Kultur, in der wir groß werden, über Handlungsvorbilder, die uns etwas vorleben, über eigene Erfahrungen, die uns prägen. Und daraus ergeben sich natürlich auch Aufgaben, entweder diesen gerecht zu werden oder aber eben auch, indem wir sie verändern. In einer aussitzenden und verdrängenden Konfliktkultur kann niemand gesund bleiben. Zu lernen, wie wir Konflikte, als besondere Form des Dialogs respektvoll austragen lernen können und dabei das Eigensein des Gegenübers achten lernen, um über die gemeinschaftlich getragene Auseinandersetzungsbewegung in eine Wir-Bewegung zu finden, wäre dann unsere Aufgabe. Im Hin und Her schwingen zwischen den extremen Polen unserer Werte, bildet sich nach und nach eine feine Mitte heraus, die uns trägt, uns Sicherheit und Halt gibt und die sich auch nicht so leicht verliert. Flow ist ein Zustand, in dem man sich befindet, wenn man vollkommen in einer Tätigkeit aufgeht und nichts anderes mehr wichtig ist. Wir können dies bei allen Berufen sehen: bei Ärzten, Sozialpädagogen, Werkzeugmachern, Zimmermänner, Sportlern, Künstlern, Musikern, Schriftstellern, Verkäuferinnen usw. Flow erleben wir, wenn wir in einen Zustand von Gleichzeitigkeit vonHerausforderung,- die meine Konzentration braucht -, und Können, - zu dem die Möglichkeit und dieFähigkeit gegeben sein muss, um etwas tun zu können, kommen. In diesem Zustand erleben wir Erfüllung, Glück, Lebensfreude, und schöpferische Wirksamkeit. Wir erleben uns im vollständigenEinssein mit unserem Tätigsein.

IKIGai führt zu einem Gefühl von Lebenserfüllung, Selbstwirksamkeit und Selbstverwirklichung. Das Erleben von Sinn, weckt eine Art von subjektiv gefühlter Sinnlichkeit und gleichzeitiger subjektiver Bedeutsamkeit. Wir fühlen uns mit der Welt verbunden und fühlen uns bedeutsam eingebettet in das Lebendige Da-Sein. Flow ist wie über das Wasser gehen, wenn wir daran glauben, trägt es uns, fallen wir in Zweifel und Ängste, gehen wir unter und müssen uns strauchelnd wieder zurück über Wasserbringen. Eine lebenslange Aufgabe, denn wir alle haben Bereiche, in denen Schätze von uns liegen, in denen wir uns stark fühlen, und dabei an uns, an die mögliche Veränderung und an Wachstumglauben und solche, die uns ins Zweifeln bringen, die uns verunsichern und uns das Leben nichtgerade leicht machen. Die uns somit das Gefühl von Begrenztheit erfahren lassen und damit Überwindungsenergie brauchen, um den Glauben an uns selbst zurückzugewinnen.

IKIGAI ist kein Trainingsprogramm für einige Tage, es ist eine Lebensaufgabe, um deren Erfüllung wir immer wieder neu Ringen dürfen. In der japanischen Kultur gibt es den Begriff „ganbatte“, eine Aufmunterung, die bedeutet so viel wie „bleib dran“ oder „gib dein Bestes“. Dieser wird oft an Kinder gerichtet. Zu dem Begriff gesellt sich dann noch oft das Wörtchen„kudasai“, was die Aufforderung weich macht, sie zu einer Bitte umformuliert. Dies entspricht der japanischen Grundhöflichkeit, sie drückt sowohl Ermutigung, als auch Respekt aus. Hier könnte man, unserer christlichen Kultur entnommen, hinzufügen, wenn Ihr nicht werdet wie die „Kinder“. Genau um dieses kindlich-unschuldige Ringen, auch als Erwachsener geht es. In der fortlaufenden„Anstrengung“ Dankbarkeit ausdrücken, dass uns das Leben geschenkt ist und dass wir deshalb, das Beste aus den mitgegebenen Schätzen herausleben dürfen.
IKIGAI - Quellen: Das Lächeln meiner Tochter, mein Schreiben, Begegnung im Beratungsprozess,
Spaziergang mit dem Hund
IKIGAI - Bedingungen: Im Moment sein, in wacher, aufmerksamer Gegenwärtigkeit sein, im Flow sein.
IKIGAI - Gefühle: sinnlich erlebte Schöpferkraft, Leichtigkeit, Freude ausstrahlendes Selbstgefühl,
Resonanz, verbunden mit uns, mit der Welt, mit anderen Menschen, mit dem, was wir tun,
Lebensfreude, ins Leben vertrauen, selbstbewusstes Erfahren von Selbstwirksamkeit.
Für die Japaner beginnt jede Art von schöpferischem Tätigwerden mit Hinterfragen, mit Unsicherheitund mit Noch-Nicht-Wissen. Die Japaner lassen sich davon nicht abschrecken. Sie fangen einfach an. Sie öffnen sich der Unsicherheit, die uns widerständig macht, stellen die selbst gesetzten Grenzen und Annahmen höflich, aber bestimmt, zur Disposition und legen demütig in kleinen Schritten los. Für die Japaner sind es die vielen kleinen Schritte jeden Tag, die wir tun, um in dem, was uns erfreut, dazu zu lernen, uns darin zu erfahren, uns gestaltend immer tiefer und detaillierter hineinzuleben und unser Tun so fast unmerklich weiter zu entwickeln und zur wahren Meisterschaft zu führen, in der das Tun und die Persönlichkeit letztendlich untrennbar miteinander verbunden sind. Wir brauchen den Mut des Anfangens und des Dranbleibens ohne das darin enthaltende Risiko zu scheuen und, ohnedanach zu schauen, wie andere darauf reagieren oder wie andere es machen. Wir folgen unserem Ruf und irgendwann wird dann daraus vielleicht eine Berufung…
Für die Japaner ist ein Tagesrhythmus, dann ein guter Tagesrhythmus, wenn er es erlaubt, zwischen Phasen von Anspannung und Herausforderung und Phasen von Entspannung und sich hellhörigmachen hin- und herzuwechseln. Denn nur wenn diese Bedingung gegeben ist, können wir IKIGAI auch fühlen. Ein guter Rhythmus schafft Struktur, die unsere erkannten Bedürfnisse berücksichtigt und ermöglicht es uns so umso flexibler und kreativer auf Veränderungsimpulse zu reagieren. Ebenso hilft uns ein bewusstes und regelmäßiges Reflektieren (Spiegeln), sinnlich fühlend zu erspüren, was unser Leben lebenswert macht. Es hilft uns wertvolle und initiatische Momente wahrzunehmen und zu vergegenwärtigen. Die tägliche, verinnerlichte Frage, wofür ich heute dankbar bin ist ein ständigerBegleiter in der japanischen Kultur, weil sie Teil einer Lebenshaltung ist. Wo habe ich Momente des Ein-Klangs, des Eins—Seins erfahren, welche kleinen oder großen IKIGAI-Momente habe ich erlebt. Es geht dabei auch darum, Dankbarkeit zu kultivieren. Indem wir bewusst erleben, was uns ein Gefühl von Dankbarkeit macht, wann wir uns dankbar fühlen, fängt unser neurophysiologisches System an, zu lernen, was uns dankbar macht und mit welcher Qualität von Gegenwärtigkeit dieses Gefühlverbunden ist. Es fängt an, nach solchen Momenten zu suchen oder sogar sie selbst zu schaffen, weil es spürt, dass das unserem System gut tut, dass es uns mit der Welt verbindet und dass wir in dieser Haltung Freude ausstrahlen und hohe Energie haben.
Um sein IKIGAI zu finden, muss man Klischees überwinden und auf die eigene Stimme hören. Das Empfinden von IKIGAI deutet auf eine bestimmte Geistesverfassung hin. Es gibt dem, der es fühlt, das Gefühl ein glückliches und aktives Leben aufbauen zu können. IKIGAI ist gewissermaßen eine Art Barometer, das die Lebensperspektive eines Menschen umfassend und treffend darstellt. IKIGAI gibt dem Leben Sinn und verleiht uns das Durchhaltevermögen zum Weitermachen. Wer sich dabei der Philosophie des Kleinanfangens bewusst ist, kann Widerstände überwinden, weil er sich durch die kleinen Fortschritte unterstützt und getragen fühlt. Jede/r, auch Sie liebe/r Leser/in, kann sein/ihr eigenes IKIGAI finden, kultivieren, im Geheimen langsam wachsen lassen, bis es eines Tageseigenständige Früchte trägt.
Die Sonne ist in Japan schon immer ein Objekt der Verehrung. Im Japanischen lautet der Landesname „Nippon“ oder „Nihon“, zwei alternative Aussprachen für einen Ausdruck, der „Ursprungder Sonne“ bedeutet. Für die Japaner ist es sinnvoll, synchron mit der Sonne zu leben, weil unsere biologische Uhr auf den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus abgestimmt ist.
Wer mit der Sonne aufsteht, ist gesegnet. Eine entsprechende deutsche Redensart lautet „der frühe Vogel fängt den Wurm“. Die Kinder werden daher auch von den Erwachsenen ermutigt, den Geist der„aufgehenden Sonne“ zu bewahren. Ein jugendlicher Geist ist ebenso wichtig für IKIGAI, wie das Gehen mit der aufgehenden Sonne. Denn der Japaner vertritt den Standpunkt, dass eine jugendliche Denkweise mit ihrer eifrig gezeigten Neugier ein Plus im Leben ist. Ebenso wichtig sind Engagement und Leidenschaft, egal wie unbedeutend das zu „Erreichen wollende“ auch sein mag. Wäre es nicht wunderbar, zeitlebens wie die Kinder bleiben zu können: Neugierig, engagiert vertieft und doch allzeitbereit, loszulassen. Denn das Loslassen ist eng verbunden mit dem „Im-Hier-und-Jetzt-Sein“, was die Kinder ja wirklich ganz besonders gut können. In der japanischen Kultur ist das „Loslassen“ aufrätselhafte Weise mit der Entdeckung sinnlicher Freuden verknüpft. Indem wir uns von der Last des Ichs befreien, können wir uns für die unendliche Welt der sinnlichen Freuden öffnen.
Negierung des Ichs klingt für manchen von uns Europäern eher abwertend. Der Ausdruck assoziiert bei den meisten von uns eher Leugnung und Ablehnung. Hier sei nun aber im Folgenden die segensreiche Auswirkung dieser Haltung im Kontext von IKIGAI beschrieben:
Wenn Sie es schaffen, den Geisteszustand des „Flow“ zu erreichen, den der in Rijeka geborene amerikanische Psychologe Mihay Csikszentmihalyi beschrieben hat, holen Sie das Beste aus IKIGAI heraus, und Dinge, wie Alltagsaufgaben fangen sogar an, Spaß zu machen. Sie werden nicht mehr das Bedürfnis nach Anerkennung für Ihre Arbeit oder Anstrengung haben, keine Belohnung irgendwelcher Art mehr suchen. Plötzlich rückt die Vorstellung in greifbare Nähe, in einem Dauerzustand von Glück zu leben, ohne das Bedürfnis unmittelbarer Befriedigung durch äußere Anerkennung. Nach Mihay Csikszentmihalyi ist Flow ein Zustand, in dem Menschen so sehr in eine bestimme Tätigkeit versunken sind, dass nichts anderes mehr zu zählen scheint. So findet man Freude an der Arbeit. Arbeit wird zum Selbstzweck statt zum widerstrebend erduldeten Mittel, um irgendetwas zu erreichen. Im Flow arbeiten Sie nicht, um Geld für Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zumindest ist das nicht die oberste Priorität. Sie arbeiten, weil die Arbeit selbst unerhörte Freudebereitet. Das Einkommen ist nur ein Bonus. Ein Kernaspekt des Flows ist es also, dass die Negierungdes Ichs zur Befreiung von der Bürde des Ichs wird. Schließlich ist nicht das Ego von Bedeutung. DieGesamtheit der unendlich vielen Nuancen der Elemente einer Arbeit ist das Wichtige. Wir sind nichtdie Meister – die Arbeit ist der Meister, und im Flow können wir uns auf freudvolle Weise mit unsererArbeit identifizieren. Es sind letztendlich das Erlebnis von Kohärenz und die Wahrnehmung von Lebenszielen, die kleine IKIGAI- Splitter in unserem Leben brillieren lassen. Im Flow-Sein heißt, das im HIER UND JETZT-SEIN schätzen. Vergangenheit und Zukunft spielen in diesem Moment keine Rolle, das Glück liegt ausschließlich im gegenwärtigen Moment.
In Harmonie mit anderen Menschen und mit der Umwelt zu leben ist ein Kernelement des IKIGAI.
Soziale Sensibilität ist ein entscheidender Faktor für gemeinsame Teamleistungen. Das IKIGAI des Einzelnen fördert im freien Gedankenaustausch in der Gruppe Kreativität, wenn sie mit anderen Menschen gemeinsam umgesetzt wird. Wenn alle beteiligten Menschen sich gegenseitig in ihrer individuellen Ausprägung wertschätzen und respektieren, können sie gemeinsam ein „goldenes Dreieck“ von IKIGAI, FLOW und Kreativität verwirklichen.
In der japanischen Kultur hat IKIGAI außerdem viel damit zu tun, in Harmonie mit der eigenen Umgebung zu sein, mit den Menschen im eigenen Umfeld und der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit – anders ist Nachhaltigkeit nicht möglich. Die Säule Harmonie und Nachhaltigkeit beinhaltet das vielleicht wichtigste und außergewöhnlichste Ethos der japanischen Geisteshaltung. Japan ist eine Nation der Nachhaltigkeit. Das betrifft nicht nur das Verhältnis der Menschen zur Natur, sondern auch die Form individueller Aktivitäten innerhalb eines sozialen Kontextes. Man sollte angemessene Rücksicht auf andere Menschen nehmen und sich der Auswirkungen der eigenen Handlungen auf die Gesellschaft als Ganzes bewusst sein. Idealerweise sollte jede soziale Aktivität nachhaltig sein. Es entspricht dem japanischen Geist, Dinge auf zurückhaltende, aber auch nachhaltige Art zu verfolgen, anstatt überschwänglich nach der kurzlebigen Befriedigung von Bedürfnissen zu suchen. Die japanische Kultur ist voller Meme und Institutionen, die IKIGAI als Antrieb für Nachhaltigkeit nutzen. Menschen sind wie ein Wald – individuell, aber doch verbunden und für ihr Wachstumvon anderen abhängig. Wenn jemand schon seit langer Zeit lebt, ist das angesichtsder Höhen und Tiefen dieser oft unberechenbaren Welt eine ziemliche Leistung.
Schließlich kommt es im langen Prozess des Lebens hin und wieder vor, dass wir stolpern und fallen. Selbst in solchen Phasen, selbst mitten in einer Pechsträhne kann man IKIGAI haben. Kurz gesagt, IKIGAI gibt es buchstäblich von der Wiege bis ins Grab, ganz egal, was in ihrem Leben passiert.
Menschen, die ihr IKIGAI finden, erleben Freuden jenseits der allzu simplen Werte des Gewinnens oder Verlierens. IKIGAI trägt dazu bei, das Beste aus Umständen zu machen, die ansonsten schwierig wären – unabhängig von der Tatsache, dass sie vielleicht schwierigsind. Wir sollten unser IKIGAI in kleinen Dingen finden. Wir sollten klein anfangen. Wir sollten im Hier und Jetzt sein. Und, am wichtigsten, wir können und sollten unserem Umfeld nicht die Schuld für einen Mangel an IKIGAI geben. Schließlich ist es unsere Aufgabe, unser eigenes IKIGAI auf unsere eigene Weise zu finden.
Zu den Vorteilen, die IKIGAI mit sich bringt, gehören Robustheit und Resilienz. – beide Stärken sind überaus notwendig, wenn etwas Tragisches geschieht. Resilienz oder Widerstandskraft ist wichtig im Leben, vor allem angesichts einer immer unvorhersehbareren oder gar chaotischen Welt.
Unter japanischen Fischern gibt es ein Sprichwort: „Unter den Planken liegt die Hölle.“ Wenn Mutter Natur einmal wütet, gibt es nichts, was man dagegen tun kann. Trotz der Risiken wagen sich die Fischer hinaus aufs Meer und tun ihr Bestes, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In genau diesem Geist, rappelten sich die Menschen in dem von Erdbeben und Tsunami betroffenen Gebieten wieder auf.
Woher nehmen die Japaner die Energie zum Weitermachen? Manche finden die Quellen und Inspiration für ihre Widerstandskraft in sozialen Normen und Moralvorstellungen. Auch Bildung und finanzielle Sicherheit spielen eine wichtige Rolle, genau wie familiäre Bindungen und Freundschaften.
Ganz klar ist auch, dass die Religion eine wichtige Rolle für die Widerstandskraft des Landes spielt und immer schon gespielt hat. Und zwar eine ganz besondere Art von Religion. Die Japaner schätzen traditionell den Gedanken, dass es im Leben unendlich viele Quellen für religiösen Sinn und Werte gibt statt einer einzigen, die für den Willen einer Gottheit steht. Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen einem einzelnen Gott, der uns sagt, was wir tun und wie wir leben sollen, und der japanischen Vorstellung von acht Millionen Göttern. Der eine Gott sagt uns, was gut und böse ist; er entscheidet wer in den Himmel und wer in die Hölle kommt. In der Shinto-Religion mit ihrem Glauben an 8 Millionen Götter ist der Glaubensprozess demokratischer, Shinto ist aus kleinen Ritualen aufgebaut, die Achtsamkeit für die Natur und die Umwelt ausdrücken. Japaner sehen Gottheiten in allem, was sie umgibt, von Menschen und Tieren, bis hin zu Pflanzen, von Bergen, bis zu kleinen Alltagsdingen. Selbst leblose Gegenstände können in der japanischen Wahrnehmung freundlich zu Menschen sein, solange wir ihnen gebührenden Respekt und Achtung erweisen. Dabei ist die in der japanischen Lebenseinstellung verwurzelte Achtsamkeit von der buddhistischen Tradition der Meditation beeinflusst. Die Vorstellung, die äußere Welt zu verändern, indem man sich selbst verändert –ein Kernpunkt der japanischen Zen-Tradition -, ist die Kulmination dieser Vielzahl von Einflüssen. Alles auf der Welt ist verbunden und kein Mensch ist eine Insel. Wenn die Japaner sagen, in einem Haushaltsgegenstand wohne ein Gott, heißt das, der betreffende Gegenstand sollte mit Achtung und Respekt behandelt werden. Und nicht etwa, dass der Schöpfergott des ganzen Universums auf wundersame Weise in diesem winzigen Ding Raum gefunden hat. Solche Einstellungen spiegeln sich im Handeln der Menschen wieder. Wer glaubt, dass in einem Objekt ein Gott lebe, geht anders an das Leben heran, als jemand der das nicht glaubt. Aus Sicht eines typischen Japaners ist das Leben eher ein Gleichgewicht aus vielen kleinen Dingen als etwas, das von einer übergeordneten Einheitsdoktrin diktiert wird. Aus japanischer Perspektive sind religiöse Themen willkommen, solange sie zur Vielfalt einer weltlichen Lebensgrundlage beitragen.
Für ein stabiles Gefühl von IKIGAI müssen Arbeit und Leben im Gleichgewicht sein. Tatsächlich gibt es eine enge Verbindung zwischen IKIGAI und unserer Vorstellung von Glück. Wir alle wollen glücklich sein, und wer IKIGAI hat, fühlt sich glücklicher. Nur wenige Bestandteile des menschlichen Lebens sind unerlässlich dafür, damit jemandglücklich sein kann. Trotz alledem neigen Menschen zu dem Glauben, dass ganz bestimmte Dinge im Leben notwendig sind für Glück, auch wenn sie es in Wahrheit nicht sind. Wenn wir allerdings auf einen bestimmten Lebensaspekt so stark fokussiert sind, dass wir denken, dass von dessen Erfüllung unser Glück abhängt, dann werden wir tatsächlich unglücklich sein. Mit einer Fokussierungs-Illusion, schafft man sich einen persönlichen Grund dafür, unglücklich zu sein. Es gibt keine absolute Glücksformel – jeder einzigartige Lebenszustand kann auf seine eigene Art die Grundlage für Glück bilden. Letztendlich muss man, um glücklich zu sein, sich selbst akzeptieren. Selbstakzeptanz gehört zu den wichtigsten und doch schwierigsten Aufgaben, denen wir uns im Leben gegenüber sehen. Tatsächlich gehörtes zum Einfachsten und Lohnendsten, was Sie für sich selbst tun können – ein preiswertes, wartungsfreies Rezept zum Glücklichsein.
Die Offenbarung ist, dass es paradoxerweise oft zur Selbstakzeptanz gehört, das eigene Selbst loszulassen, vor allem, wenn es um ein illusorisches Selbstbild geht, das man für erstrebenswert hält. Dieses illusorische Selbstbild gilt es loszulassen und aufzugeben, um sich selbst akzeptieren zu können und glücklich zu werden. Und das, was wir suchen, finden wir nirgendwo außer in uns selbst.
Die japanische Redensart „jünin toiro“ (zehn verschiedene Farben für zehn verschiedene Menschen) drückt die Ansicht aus, dass Menschen sehr unterschiedlich sind, was ihre Persönlichkeit, ihre Sensibilität und ihre Wertesysteme angehen. Wenn Sie Ihr IKIGAI verfolgen, können Sie nach Herzenslust sie selbst sein. Das ist natürlich, denn wir haben alle unsere eigenen Farben.
Die Vorstellung, dass ein scheinbar angepasster Mensch tiefgründige, oberflächlich nicht sichtbare Schichten individueller Persönlichkeit pflegen könnte, hat etwas Befreiendes. Außerdem könnte es sein, dass jedes Individuum tatsächlich eine ziemlich einzigartige Einstellung zum eigenen Leben aufweist. Individuelle Einzigartigkeit ist etwas, das man entdecken und erarbeiten muss, sie kann nicht einfach angenommen und beibehalten werden. Wenn man das eigene IKIGAI als das eines Individuums in Harmonie mit derGesellschaft in ihrer Gesamtheit definiert, entfällt ein Großteil vom Stress des Konkurrierens und Vergleichens. Sie müssen nicht auf die Pauke hauen, um gehört zu werden. Es reicht wenn Sie flüstern (manchmal auch nur zu sich selbst).
IKIGAI und Glück entstehen, wenn man sich selbst akzeptiert. Anerkennung von anderen ist dabei sicherlich ein Vorteil. Im falschen Kontext kann sie allerdings auch die entscheidend wichtige Selbstakzeptanz behindern. Wichtig bleibt: Alles in der Natur ist verschieden. Auch wir Menschen sind unterschiedlich - jeder und jede Einzelne von uns.
Feiern Sie Ihre Persönlichkeit! Lachen können über sich selbst, Selbstironie, können uns helfen, Frieden mit unseren Fehlern und Unzulänglichkeiten zu schließen. Lachen öffnet die abwehrende Blockade und ermöglicht so, das Bewusstsein durch frische von außen hinzugewonnene Erkenntnisse zu erweitern bzw. zu ergänzen.
Wenn Sie Angst davor haben, Ihrem wahren Spiegelbild Ihres Ichs oder Selbsts zu begegnen und ihm gegenüberzutreten, dann denken Sie daran, über sich selbst lachen entspannt und öffnet die Türen, wir können annehmen, was wir sehen, uns leicht damit fühlen und uns gleichzeitig in Selbstakzeptanz fühlen.
Letztendlich dürfte das größte Geheimnis des IKIGAI darin bestehen, sich selbst zu akzeptieren, egal, mit welchen einmaligen Eigenschaften man zufällig geboren wurde. Es gibt nicht den einen optimalen Weg zum IKIGAI, keine Landkarte für alle. Jede und jeder von uns darf herausfinden, dass Wege beim Gehen entstehen und wir dürfen im Dschungel der Möglichkeiten herausfinden, welcher Weg denn nun der ist, über den wir zum IKIGAI unserer Persönlichkeit finden. Und vergessen Sie auf keinen Fall, immer wieder herzhaft über sich selbst zu lachen, heute und an jedem neuen Tag!

Zu guter Letzt möchte ich Sie gerne mit einer Grafik in Kontakt bringen, die ursprünglich von demspanischen Astrologen Andres Zuzunaga stammt und die er 2012 veröffentlichte. Er nannte sie Sinn. Einige Jahre später stieß der Autor und Blogger Marc Winn auf das Venn – Diagramm und brachte es mit IKIGAI in Verbindung, obwohl es ohne Kenntnis von IKIGAI entwickelt wurde. Dieses Diagramm erstaunt die Japaner, denn es hat nichts mit der wahren japanischen Bedeutung von IKIKAI zu tun.
Wenn wir das Diagramm allerdings nicht zielorientiert und kognitiv für uns nutzen, sondern ergebnisoffen uns vorstellen, dass all die dargestellten Begriffe und Überschneidungen Qualitäten beinhalten, hinter denen auch göttliche Kräfte stehen, und wir uns erlauben großräumig und großherzig, diese Begriffe miteinander in Bewegung und in Beziehung zueinander kommen zu lassen und sie sozusagen miteinander „tanzen lassen“, dann entsteht ein Resonanzfeld, das in Bewegung ist und, das, wenn wir es mit unserem Selbst in Verbindung bringen, uns eine Art seismographische Gegenwärtigkeitsbefindlichkeit eröffnet. Dann können wir in wacher, mitfühlender Aufmerksamkeit mit uns selbst ein Spürbewusst-sein entwickeln, das uns unsere innere, momentane Wahrheit zeigt. Wo stehen wir gerade, wo liegt der Schwerpunkt, die Zielrichtung bzw. Ausrichtung unserer Lebenshaltung? Wir können aber auch spüren, wo die ungelebten und nicht wahrgenommenen Teile liegen, wo unsere Sehnsüchte und Entwicklungsaufgaben uns gerne hinführen wollen, um glücklicher und „vollständiger“ zu werden. Diese Art des nicht getakteten, offenen Prozesses, ist eine Art Experimentierraum und eine Art Forschungslabor, die andauernde Bewegung impliziert und über die Bewegung immer wieder neu Stabilität gewinnt. Nach dem Prinzip, „nur wer sich verliert, will sich neufinden“. Sie führt uns in Annäherungen immer mehr an das, was unsere Wesensaufgabe ist und ermöglicht uns so, sie immer mehr auch zu leben und zu verwirklichen. Wenn uns dies gelingt, erfüllt dies Diagramm die Haltung des IKIGAI, auch wenn es bei seiner Entstehung nichts davon wusste.

22. Juni 2024 / Joachim Armbrust


Die Wichtigkeit des Zusammenspiels von "Gefühlen, Nervensystem und Hormonen" für die Psychotherapie

Autor: Joachim Armbrust

Artikel bei raum & zeit

Das Nervensystem und das Hormonsystem des Menschen sind eng miteinander gekoppelt. Sie sind miteinander in einem dialogischen Prozess, der durch dynamische Bewegung, immer wieder neu stressiert und gleichzeitig Gleichgewicht und Erfüllung bzw. Entspannung sucht. Während über das Nervensystem elektrische Impulse sehr schnell weitergeleitet werden, werden Hormone als chemische Signalstoffe im Blutgefäßsystem transportiert. In den meisten Fällen sind die Hormone für das verantwortlich, was, wie und ob wir fühlen. Fast kein Hormon ist immer in der gleichen Konzentration vorhanden und wenn es zu Hormonschwankungen kommt, dann kann das auch Auswirkungen auf unsere Stimmung bzw. unser Grundbefinden haben. Das System der Hormone sorgt nicht nur dafür, dass alle Körperfunktionen reibungslos ablaufen. Es nimmt auch massiv Einfluss auf unsere Psyche. Ob wir vor Wut fast platzen oder auf Wolke sieben schweben oder ob wir unsere Lebensfreude verlieren - Adrenalin, Oxytocin oder Serotonin steuern die Emotionen. Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol sorgen für Stress. Unser psychisches Wohlbefinden ist also eng mit dem hormonellen Profil verknüpft. Das Hormonsystem wirkt durch seine Ausschüttungen von Hormonen auf unser Nervensystem zurück. Zu Beginn dieses Jahrhunderts beobachtete der amerikanische Physiologe Walter B. Cannon, dass bei physischen oder emotionalen Reizen wie Schmerz oder Wut die Menge des Hormons Adrenalin im Blut zunimmt und daraufhin unter anderem sich der Blutzuckerspiegel erhöht und Blut aus dem Gewebe Herz, Lunge, Hirn und Muskulatur stärker versorgt: So wird der Organismus auf Kampf und Überleben bei einer vitalen Bedrohung vorbereitet. Darum sind erhöhter Blutdruck und schnellerer Puls typische Zeichen für eine stressbedingte Überaktivierung des physiologischen Systems, die der Anstieg des Adrenalinspiegels veranlasst.

Was bringt also das Hormon-System in Disharmonie?

Die Antwort ist klar und eindeutig: Stress. Stress selbst löst Hormone aus (vor allem Cortisol und Adrenalin), die wie ein Teil unserer Basishormone in den walnussgroßen Nebennieren gebildet werden. Wenn diese Nebennieren mit der Produktion der Stress-Hormone überlastet sind, dann ist keine Kapazität für ausreichende Produktion anderer Hormone mehr vorhanden. Unser ganzes Hormon-System gerät in Unordnung. Das Übermaß an Stress-Hormonen ist hauptverantwortlich für die Entgleisung unserer Hormone. Die Liste, was Stress-Hormone auslöst, ist lang und beschreibt viele der Krankheits-Ursachen in unserer hochzivilisierten Welt:

  • Stress durch Überforderung wie Unterforderung
  • Stress durch mangelnde Selbstannahme („Ich bin nicht gut genug“ usw.) bis hin zum Selbsthass
  • Stress durch Erwartungshaltungen anderer und die Erfüllung ihrer Bedürfnisse, statt den eigenen Bedürfnissen, den eigenen Befindlichkeiten und den eigenen Werten, zu folgen.
  • Stress durch Anpassung an immer neue Situationen, dem Gefühl, ihnen nicht gewachsen zu sein
  • Stress durch Einsamkeit, Isolation, das Gefühl von niemandem verstanden und geliebt zu werden
  • Stress durch Befürchtungen, Ängste, durch Zukunftsschwarzmalerei
  • Einnahme von Stresshormonen durch Fleischverzehr
  • Stress durch Umweltfaktoren (Lärm, Luftverschmutzung, klimatische Extreme)
  • Stress durch partnerschaftliche und familiäre Konflikte
  • Stress durch Gefühle von Einsamkeit und sich verloren fühlen
  • Stress durch jede Art von Suchtverhalten, auch Co-Abhängigkeit, dem aufopferungsvollen Verhalten eines Suchtkranken gegenüber
  • Stress durch innere Leere, Sinnlosigkeit im Leben, fehlende erfüllende Aufgabe, spirituelle Verzweiflung.
  • Stress durch das Selbstgefühl nicht selbstwirksam sein zu können, und deshalb bei der Bewältigung von Aufgaben zu scheitern Lassen Sie uns also nicht nur von körperlichem und emotionalem Stress sprechen, sondern auch von mentalem und spirituellem Stress. Und damit schließt sich der Kreis des Dreiklangs Körper, Geist und Seele.

Wie können wir lernen, unsere Hormone selbst zu steuern?

Wir dürfen uns bewusstwerden, dass wir schon immer unsere Hormone steuern, wenn auch unbewusst. Wenn wir zu viel belastenden Stress in unserem Leben dulden, dann hat das Auswirkungen auf unsere Hormone. Dann werden sie selbst zur Last. Hormone als Last sind ein Spiegel für belastenden Stress. Hormone dienen allerdings nur gehorsam unseren „Anweisungen“. Sie können ja nicht ahnen, dass unsere Anweisungen aus unbewussten Ängsten, aus Perfektionsansprüchen, Groll oder Verzweiflung gespeist sind. Sie werten nicht und nehmen unsere Signale beim Wort. Bringen wir in diese unbewusst ablaufenden Prozesse Bewusstsein, werden wir also zum mitfühlenden Beobachter unserer Selbst, und leiten über unser mitfühlendes und liebendes Bewusstsein Tiefenatmung ein, senden wir an das limbische System und speziell an die Amygdala über Entspannung Entwarnung und Beruhigung als Wahrnehmungsqualität. Nur Mut! Kleine Veränderungen bewirken hier schon Großes. Bevor wir in unser Hormon-System direkt eingreifen, sorgen wir erst einmal dafür, dass wir die Produktion von Stress-Hormonen drastisch reduzieren. Wir haben die Autorschaft für unser Leben und können entscheiden, ob wir uns unsere Zukunft hinreichend gut oder farbig ausmalen oder eben schwarz und unheilvoll. Es gibt Momente in unserem Leben, da geht alles ganz leicht und wie von selbst, wir sind im „Flow“, so der Begriff, den der tschechische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi geprägt hat. Das bedeutet, dass verschiedene zusammenhängende Qualitäten unseres Seins im Gleichklang sind. In der modernen Forschung spricht man auch von Herzkohärenz. Es wirken zum Beispiel Gedanken, Emotionen und unser Verhalten stimmig zusammen. Oder auf der Körperebene geschieht es, dass Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem, Herz und Gehirn, kooperativ, miteinander verbunden und in harmonischer Resonanz miteinander sind und sich reibungsfrei koordinieren. Wir Menschen streben danach, uns wohl zu fühlen, leider gerne, indem wir unangenehme Gefühle versuchen zu vermeiden oder sie schnellstmöglich loswerden wollen. Die scheinbar effektivste Strategie sie loszuwerden, besteht darin, sie zu verdrängen. Da Emotionen aber Lebensenergieträger sind, stellen wir mit den Emotionen, die wir nicht fühlen wollen, auch unsere Lebensenergie vor die Türe. Es entsteht ein unbewusster, innerer Kampf:
Was zu uns gehört, kämpft darum, bei uns einen Platz zurückzuerobern. Weil wir diesen Teil aber ausblenden wollen, wenden wir viel Kraft auf, um ihn aus unserem Bewusstsein fernzuhalten. So haben wir einen beständigen Energiefresser in unserem System. Unangenehme Gefühle weisen uns auf verletzte oder übergangene Bedürfnisse hin und können uns eigentlich hilfreich dabei sein, zu entdecken, welches Bedürfnis wir eigentlich gehabt hätten, um es sodann als Wunsch mitzuteilen. Wissen wir genauer, was uns stört, können wir es auch ändern. Da aber länger anhaltende emotionale Reaktionen sich selbst verstärken, führt dies zu antrainierten festen Reaktionsmustern in uns, die uns nicht bewusst sind und sich nicht mehr ganz so leicht auflösen lassen.
Gleichzeitig beeinflussen diese immer wiederkehrenden Reaktionsmustern unsere Wahrnehmung, unsere Gedanken und unsere Emotionen und bilden eine Art selbstverständlicher „Wirklichkeit“. Wir haben also eine unbewusste Unfähigkeit entwickelt, ohne es zu wissen. Damit können wir aber auch nichts an ihr ändern, wir haben keinen handelnden Zugriff darauf, weil nicht mehr bewusst. Sobald sie jedoch aus ihrer unbewussten Unfähigkeit eine bewusste Unfähigkeit machen, indem sie ihre Gefühle aus der Vergangenheit, die Ihr aktuelles Verhalten und Ihre momentanen
Gefühle beeinflussen, bewusst machen, könnten Sie das automatisierte Reaktionsmuster wieder verflüssigen und durch ein neues Verhalten und damit auch durch andere Gefühlserlebnisse zu ersetzen. Emotionen und damit verbundene Gedanken lösen eine Kaskade von physiologischen Prozessen im Körper aus: Der Muskeltonus steigt, wir erröten, wir schwitzen, Herzfrequenz und Atemrhythmus verändern sich. Das heißt, sie erregen das Nervensystem und als Folge auch das Immunsystem, in hartnäckigeren Situationen wird dann auch das Immunsystem in Mitleidenschaft gezogen. Wir können den Prozess umdrehen: Wir können lernen, auf negativ besetzte Reize mit neuen, positiveren Reaktionsmustern zu reagieren. Gelingt es uns, dies öfter zu wiederholen, etablieren wir neue Gefühle, neue Reaktionen, neue Befindlichkeiten, neue Umgangsformen, die die Art unserer Hormonausschüttung verändert.

Das Feld, auf dem sich unsere Emotionen austragen, ist der Körper. Unser emotionales Gehirn, also das sogenannte limbische System ist unserem Körper viel näher, als dem Gehirn, in dem unser Verstand sitzt. Unsere Emotionen werden über zwei wichtige Körpersysteme in den Körper transportiert: das autonome Nervensystem (ANS), auch vegetatives Nervensystem genannt und das Hormonsystem. Das autonome Nervensystem ist der Teil unseres Nervensystems, der ohne unser bewusstes Zutun, 24 Stunden am Tag, nahezu sämtliche Prozesse in unserem Körper reguliert und so unser Überleben sichert. Es besteht aus zwei Linien: Sympathikus und Parasympathikus. Während der Sympathikus grob gesagt für Aktivität zuständig ist, und auch bei Stress die Kampf- oder Fluchtreaktion steuert, hat der Parasympathikus die Aufgabe, für Erholung zu sorgen und neue Energie verfügbar zu machen. Der Parasympathikus reguliert deshalb auch unsere Verdauung. Das Hormonsystem produziert je nach emotionaler Lage unterschiedliche Hormone. Die wichtigsten Stress-hormone sind Adrenalin und Cortisol. Wenn wir uns wohl fühlen, wenn es uns gut geht, werden vermehrt das Sexualhormon Dehydroepiandrosteron (DHEA) und Oxytocin ausgeschüttet. Die Stresshormone Adrenalin und Cortisol sind für unser Überleben zwingend notwendig. Dauerhaft zu viel davon in unserem Blutkreislauf schadet jedoch langfristig unserer Gesundheit. DHEA und Oxytocin hingegen fördern unsere Gesundheit. Als Glückshormone werden umgangssprachlich Hormone oder Neurotransmitter bezeichnet, die Wohlbefinden oder Glücksgefühle hervorrufen können. Die bekanntesten sind Dopamin, Serotonin und Endorphin. Weitere heißen Noradrenalin, Phenethylamin und Oxytocin. Die bekanntesten Hormone, die der Körper bei Stress freisetzt, sind Noradrenalin, Adrenalin und Cortisol. Noradrenalin und Adrenalin gehören zum sog. sympathoadrenomedullären System. Dieses System aktiviert sich sofort, wenn der Mensch einem Stressfaktor ausgesetzt ist.

Es gibt also genügend Anhaltspunkte dafür, dass emotionale Zustände und die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen Auswirkungen auf den Hormonhaushalt haben. Wache, mitfühlende Präsenz und das innere Halten eines unterstützenden Raumes wirken sich wiederum positiv auf das emotionale Wohlbefinden aus und beeinflussen somit indirekt den Hormonhaushalt. Unsere Fähigkeit, in einem Zustand von innerer Balance und Flow zu bleiben, wird bestimmt von unserer Fähigkeit, unsere eigenen Emotionen zu regulieren und Energieabfluss zu beenden. In einem Zustand von Kohärenz sind Herz, Geist, Emotionen und Körper in harmonischer Ordnung und im Gleichklang. Es geht darum, die innere Haltung zu den Stressquellen und unsere innere Interpretation zu ändern, destruktive Reaktionsmuster zu durchbrechen und bewusst zu wählen, wie wir auf eine stressauslösende Situation reagieren. Dabei kann die Atmung auf den Herzrhythmus Einfluss nehmen. Atmung und Herzrhythmus sind eng miteinander verbunden. Bei der Einatmung steigt die Herzfrequenz, bei der Ausatmung sinkt sie wieder. Aus der Forschung wissen wir, dass unangenehme Emotionen wie Frust und Ärger zu einem inkohärenten oder gar chaotischen Muster im Herzrhythmus führen. Durch die enge Verbindung zwischen Herz und Gehirn schränkt Inkohärenz die
Fähigkeit des Gehirns ein, Informationen zu verarbeiten. Wir können uns aber auch die Herz-Gehirn-Kommunikation zu Nutze machen und kohärente, sowie harmonische Signale vom Herz aus zum Gehirn senden. Hier beispielhaft eine Möglichkeit, die über den Atem führt: Stellen Sie sich vor, Sie atmen über das Herz ein und aus. Atmen sie verbrauchte Energie aus, atmen sie frische Energie ein; atmen sie Anspannung aus und atmen sie Leichtigkeit ein; atmen sie Sorge und Angst aus und atmen sie Vertrauen und Dankbarkeit ein; atmen sie Mitgefühl aus und atmen sie Selbstmitgefühl ein. Stellen Sie sich vor, wie über das Ein- & Ausatmen, ihr Organismus, ihr Körper mehr und mehr sich mit Licht und Liebe füllt. Diese Übung macht zweierlei: Sie öffnet unser System für das Außen und löst somit die Einkapselung auf, die bei Stress immer eintritt (Tunnelblick).
Durch die positiven Impulse und die Atmung beruhigt und entspannt sie unser System und lässt positive Bilder aufsteigen, die die Zukunft wieder als erstrebenswert und uns rufend erstrahlen lassen. Bindung, Selbstkontakt sowie Sicherheitserleben sind zentrale Grundvoraussetzungen, um den Herausforderungen des Lebens auf gesunde Art und Weise zu begegnen. Bindungsbasierte Körperpsychotherapie ist ein kompliziertes Wort, aber im Grunde basiert sie auf genau diesen, wesentlichen Prinzipien:

  • Verbindung zu uns Selbst und Anderen schafft Sicherheit.
  • Sicherheit erzeugt Entspannung, Klarheit und Selbstregulation auf körperlicher und emotionaler Ebene.
    Bindungsfähigkeit und die annehmende, liebevolle Selbstbeziehung zum eigenen Körper stärken also Ihre Widerstandsfähigkeit. Körperliche und emotionale Gesundheit in herausfordernden Lebenssituationen aufrechterhalten zu können, wird auch Resilienz genannt.

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Artikel "Resilienz und Weisheit" Autor Joachim Armbrust, in "Natur und Heilen" Juni 2024, in der Rubrik "Zu guter letzt"

2. Juni 2024 / Joachim Armbrust


Interview SWR Kultur: Tickt die älteste Tochter anders?

Frau Fett vom SWR interviewt Joachim Armbrust zum Thema Geschwister.
Ausgestrahlt am 23. Mai 2024 um 18:00 Uhr auf SWR Kultur.

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